Sure, sure everything’s great! But could it be grether?

Julia Friese
Julia Friese lebt in Berlin, arbeitet als Schriftstellerin und Kulturjournalistin und veröffentlicht in Literaturzeitschriften und Anthologien. Ihr viel besprochenes Romandebüt «MTTR» erschien 2022 im Wallstein Verlag und war für den Clemens-Brentano-Preis nominiert. Für ihre mit dem International Music Journalism Award ausgezeichnete Musikexpress-Kolumne »Gedanken zum Gegenwärtig*innen« beobachtet sie das mediale Zeitgeschehen, analysiert dessen Chiffren und Trends und legt die Querverbindungen zwischen Pop, Netzjargon und Gegenwartsliteratur frei. Für Low Budget High Spirit interviewt Julia mit Sandra und Kersty Grether zwei außergewöhnliche und wichtige Protagonistinnen der hiesigen Kultur- und Musikszene.
Mehr zu den Grethers auf doctorella.de.
Mehr zu Julia Friese auf Instagram via @_julia_friese.
Das neue Buch von Sandra und Kersty Grether "Rebel Queens" ist soeben bei Reclam erschienen. Es kann hier bestellt werden.
Als Sandra und Kersty Grether mich für eine Lesung aus meinen Roman «delulu» in ihren Genie-Salon einluden, stellten wir fest: Während ich einst vor MTV und VIVA saß, schrieben sie die Moderationen, produzierten also wesentliche Bausteine der Pop-Algorithmen, die sowohl mich als auch den Text prägten. Die Grethers sind der Erdbeerstrauch, der den hiesigen Pop durchwächst. Sie sind nicht nur «Doctorella», sondern seit drei Jahrzehnten auch Musikjournalistinnen, Autorinnen, Aktivistinnen, Gründerinnen von Bohemian Strawberry Records, des Blogs «Ich brauche eine Genie» und Gastgeberinnen zweier Kultursalons. Und nun haben sie auch noch ihr Berliner Stammcafé Sommerhaus gepachtet. Woher nehmen die bloß diese Energie? Wider aller Kulturetatkürzungen und sämtlicher Desillusionierungen: Wie überlebt man im Pop? Und warum habe ich mich nie mit ihnen über ihren Werdegang unterhalten? Eine Begegnung im Sommerhaus.
Julia Friese: In meinem musikjournalistischen Umfeld gleicht sich die Stimmung gerade zunehmend den Honoraren an. Nun werde ich Ende dieses Jahres 40, was natürlich das Ende meiner Jugend ist, und ich weiß nicht, ob das vielleicht einer der Gründe sein kann, warum …
Kersty Grether: Also, ich kenne niemanden, der mit 40 plötzlich aufgehört hätte, sich für Musik zu interessieren. Das ist doch auch falscher Pop, als dieses Ding für die Jugend zu framen! Als ich als Teenager noch bei der «Spex»Kulturredakteurin wurde, waren einige in der Redaktion schon über 30. Sandra und wirhaben uns immer älter gemacht damals. Denn es gab da diesen «Joy Division»-Mythos. Die hatten 1980 in Köln im Basementgespielt …
Sandra Grether: … und wer da nicht war …
Kersty: … wer da gar noch im Kindergarten war …
Sandra: … der verstand einfach nichts von Musik. Wir waren besessen davon, dass wir nicht da gewesen waren.
Kersty: Wir hatten immer Mythen, von denen wir besessen waren. In der Schule hat Sandra immer gesagt: Wir müssen Abitur machen, wenn wir nicht nicht so enden wollen wie Blixa Bargeld.
Sandra: Ohne Abitur hat man einen Bildungskomplex, und dann macht man lebenslang so eine Theaterscheiße.
Julia: Ihr habt diesen Optimismus, den ich weder in mir noch in vielen um mich herum finde. Ich überlege gerade, woran das liegen könnte. Liegt es daran, dass ihr die goldenen Jahre miterlebt habt? In den Redaktionen hat man mir schon immer das Gefühl vermittelt: Das Schiff steht schief, die Band spielt. Und nun spiegelt sich diese Untergangsstimmung in der politischen Gesamtsituation. Aber ihr habt diese Energie …
Kersty: Ja! Energie! Wenn ich in den Neunzigern einen Text gegen diese Scheiß-Wiedervereinigung geschrieben habe, dann in dem Bewusstsein, dass, wenn der gedruckt wird, denen nichts anderes übrig bleibt, als die Mauer wieder hochzuziehen! Es war so ein «Boah, es ist alles so folgenreich, was ich sage» (lacht). Und nein, das war nicht mein persönlicher Narzissmus. Das Gefühl hatten alle, die sich dazu durchgerungen haben, in der «Spex» ihre Meinung zu begründen …
Julia: Ihr habt damals Einfluss auf die Szene nehmen können. Wart und seid immer im Austausch. Ich bin eher eine Schreibtischtäterin, auch weil ich das Gefühl habe, es gibt in dem Sinne kaum eine Szene, es gibt kreative Individuen mit Computern …
Kersty: Da muss ich kurz widersprechen. Ich hab in den Nuller- und Zehnerjahren mehr Einfluss auf die Szene nehmen können als in den Neunzigern. 2004 ist mein erster Roman erschienen und von da an sah ich mich quasi gezwungen, mich auch mit Bild zu vermarkten. Vorher war ich ja nur ein Name unter einem Artikel. Und diese Mischung aus Künstlerpersona und Meinungsjournalistin, die hat dann schon ganz schön reingeknallt. Da habe ich dann auch hinter den Kulissen des Musikgeschäfts viel bewirken können …
Sandra: Ja, ich glaube, selbst als «Print» noch wirkmächtig war, war es von Vorteil, wenn man noch ein anderes Steckenpferd hatte. Diedrich Diederichsen hat immer gesagt: «Spex» ist nur ein Sprungbrett. Irgendwann müsst ihr springen, und überlegt euch genau, wohin! Viele «Spex»-Autoren sind zum Unterrichten an die Uni gegangen. Ich habe aber immer schon als Künstlerin geschrieben, nicht als Wissenschaftlerin. Also alles, was ich seit der Gründung von «Parole Trixi» 1998 gemacht habe, habe ich um die Musik herum gemacht. Auch, als wir in den Zehnerjahren «Ich brauche eine Genie»als Veranstaltungsreihe und Blog gegründet haben. Denn ich hatte immer schon Bands beneidet, die in der eigenen Stadt ein Dauerengagement haben. Dazu hatte ich 2017 wieder dieses Gefühl: Es gibt so viele tolle Musiker*nnen im deutschsprachigen Raum! Es gibt eine große Szene! Aber ab den Zehnerjahren haben die Medien die nicht mehr abgebildet. Ich habe mich noch bei der allerletzten Ausgabe mit der «Spex» verstritten …
Kersty: Und30 Jahre tadellose Höflichkeit zerbrach …
Sandra: Na, eigentlich habe ich mich dauernd mit denen gestritten. Du warst immer höflich. Für die allerletzte «Spex»solltejeder über sein Lieblingsthema schreiben. Und ich wollte im Stil von Rainald Goetz über FaulenzA schreiben. Goetz war ja auch mal «Spex»-Autor. Und dann kam nur zurück: Ach, ihr und eure Neunziger-«Spex». Und ich so: Ja, wir haben damals Bands entdeckt. Wo sind eure «Blumfeld» und «Tocotronic»? Müssen wir die jetzt auch noch entdecken? Also so jemanden wie FaulenzA …
Kersty: … oder Lena Stoehrfaktor, «Zuckerklub», «hannsjana», «the T.C.H.I.C.K.», «Shirley Holmes», «Drunk at Your Wedding» …
Sandra: Die müssen wir dann wohl alle auf unserem Blog und in unseren Salons vorstellen. Und was macht ihr? Der Daniel Gerhardt von der«Spex»damals so: Ja, ja, ich sehe schon, FaulenzA, die ist irgendwie relevant, weil es eine Transfrau ist, aber ästhetisch gefällt mir das nicht. Und ich so: Ja, die hat ja nur so ein Songwriting à la Bob Dylan! Da hättet ihr Bob Dylan auch übersehen, oder was?!
Kersty: Dylan? Ach, der packt es nicht! Der packt viel zu viele Silben in seine Verse!
Sandra: Stattdessen sollte ich dann über «boygenius» schreiben! Und ich dachte so: Nee, ich schreibe jetzt über FaulenzA und Lena Stoehrfaktor. Und wenn es sein muss, auch noch über «Doctorella». Der Bandname «boygenius» spielt ja auch mit dem Gedanken, dass es immer nur die Jungsbands sind, die als genial gelten, genau wie unsere«Ich brauche eine Genie»-Reihe. Ich fand es spannend, dass drei Amerikanerinnen da eine ähnliche Strategie gewählt hatten, aber warum sollte es jetzt für die letzte «Spex»-Ausgabe wichtiger sein, was drei damals noch eher unbekannte amerikanische Songwriterinnen machen, wenn es vor der Haustür eine erfolgreiche Konzertreihe mit denselben Pop-Strategien gibt? Für «Rebel Queens», also unser neuestes Buch, habe ich geschrieben, dass wir damals beide recht hatten, also Daniel Gerhardt und ich. Denn, das muss man auch mal sagen: «boygenius» sind schon groß geworden. Und das ist ja auch eine Leistung, wenn man das vorab erkennt als Redakteur. Aber unterm Strich werfe ich allen, die nach uns kamen, vor: Ihr alle hättet Gatekeeper sein können!
Julia: Ich glaube, das Problem ist vor allem, dass die Printmedien in den Neunziger- und Nullerjahren Aufmerksamkeit verteilen konnten. Aber heute muss diese klassische Presse selbst um Aufmerksamkeit ringen, also setzt sie sich eher auf Themen, die ihr selbst diese Aufmerksamkeit garantieren.
Sandra: Ach so?! Ihr denkt gar nicht, dass ihr Macht habt?
Julia: Also, ich habe mich schon immer ohnmächtig gefühlt eigentlich.
Kersty: Ich kapiere dieses Begehren, das ja auch in deinem Roman «delulu» rüberkommt, dass man sich großen Ruhm anguckt, weil man wissen will, wie der funktioniert. Und ich glaube auch nicht, dass ein Text, den man über einen Superstar schreibt, der schlechtere ist, oder dass er weniger wertvoll für die Revolution ist, als ein Text über FaulenzA. Aber wenn ich mal eben meine eigene Pionierinnenleistung ins Spiel bringen dürfte: 2004 habe ich zu Thomas Venker von der«Intro»gesagt, dass ich jetzt mal über diese ganzen Teenie-Stars schreiben will. Also Britney Spears, die Sugababes, Christina Aguilera. Das wurde damals so wahrgenommen, als würde ich Puppen echte Eigenschaften zuschreiben wollen. Es war ein Kampfschritt gegen diese Jungswelt, zu sagen: Ich nehme ernst, was die Sugababes im Interview sagen.
Sandra: Was man auch mal sagen muss: Formell hatten wir die Macht damals doch auch nicht. Die Auflage der «Spex» war auch in den Neunzigern nicht so mega hoch …
Julia: Ich habe eigentlich immer in dem Bewusstsein gearbeitet, dass mir etwas vorgesetzt wird, worauf ich auf eine möglichst eigene Art zu reagieren habe. Also: Ich verarbeite, was sich mir aufdrängt. Ihr erschafft, was fehlt: zwei Bands, ein Record Label, zwei Salons. Ich wüsste nicht mal, wie ich derlei Dinge anfangen sollte.
Sandra: Der Brecht-Salon entstand, weil eine Freundin von uns, die Künstlerin Bettina Semmer, ihrem Vater Gerd Semmer einen Liederabend widmen wollte. Gerd Semmer gilt als der erste Liedermacher. Wir hatten Texte von ihm in unserem Schulbuch in der Realschule. Sein «Ladenmädchen»kenne ich also, seit ich 14 bin. Das hat die Bettina so gerührt, dass wir die musikalische Kuration des Abends übernommen haben, und natürlich haben wir uns dann wieder aus unserem Fundus von Avantgarde-Bands bedient – von «Shirley Holmes» über «Doctorella» bis Kristof Schreuf …
Kersty: … jeder coverte ein Lied.
Sandra: Und die vom Brecht-Haus fanden es Wahnsinn. Das war ja wie ein Theaterstück, haben die gesagt.
Kersty: Dabei hatten wir das bloß mit heißer Nadel gestrickt.
Sandra: Den Salonnamen «Krawalle und Liebe» hatten die schon für uns bereitliegen.
Kersty: Die Leute staunen ja immer, was wir alles machen. Aber ich muss sagen, ich schlafe auch viel. Und nach dem Aufstehen schreibe ich dann Tagebuch. Kathleen Hanna hat das auch gemacht, habe ich in ihrer just erschienenen Biografie gelesen. Das ist so eine Angewohnheit, die aus dieser Neunziger-Panik hervorgeht, dass man eh keine Therapie auf Krankenschein kriegen wird, also muss man schreibend all seine krassen Erlebnisse verarbeiten. Und in «Das Buch der großen Vorhaben» habe ich immer meine Wünsche aufgeschrieben. Da stehen auch richtig peinliche Sachen drin, also mit wem ich gerne eine Affäre hätte und so. Letztens habe ich mir mein Buch von 2020 angeguckt und ich kann sagen: Hell yes, fucking Scheiß, alles hat sich bewahrheitet!
Julia: Ihr manifestiert also. Funktioniert so auch euer politischer Aktivismus? Es heißt ja, dass ihr die Riot-Grrrl-Bewegung nach Deutschland geholt habt …
Kersty: Genau, du guckst irgendeine politische Talkshow, regst dich sehr auf, nimmst dein «Buch der Wünsche», schreibst da rein, wie du die Sache ändern willst, machst das Buch zu, und Monate später siehst du dann in irgendeiner Begebenheit in deinem Alltag die Möglichkeit und den Auftrag.
Sandra: Ich verstehe das auch gar nicht, dass dir das so schwierig vorkommt. Da draußen auf der Fensterbank liegt «Die Zeit», und dadrin wird dein «delulu» besprochen.
Julia: Bücher veröffentlichen, wie das funktioniert, finde ich jetzt nicht so nebulös. Man sitzt nur – also zu Hause – schreibt, dann schickt man sein Manuskript von eben diesem Zuhause per Mail an die Literaturagenturen und eine oder zwei melden sich zurück, dann schickt die Agentur das Skript an die Verlage und einer oder zwei melden sich dann zurück und schon ward der Text Buch geworden.
Kersty: So ist das bei mir noch nie gelaufen. Ich hatte noch nie eine Agentur.
Julia: Ihr seid einfach nicht so passiv wie ich. Ich warte immer darauf, dass eine Autorität mir die Absolution erteilt. Aber so holt man die Riot-Grrrl-Bewegung eben nicht nach Deutschland.
Kersty: Das mit dem politischen Aktivismus ging eigentlich schon früher los. Als ich elf Jahre alt war, habe ich mir in Karlsruhe die «Soziologie der englischen Musikszene» von Simon Frith gekauft. Und da stand drin: Es gibt Fanzines. Punks machen selber Hefte. Und ich dachte so: Geil. Ich will auch ein Heft machen. Also habe ich mich in mein Zimmer gesetzt und über «The Jesus And Mary Chain» geschrieben. Und am Ende des Textes war ich dann gedanklich nicht mehr da, wo ich anfangs noch gewesen war. Das war so faszinierend für mich, dass ich noch fünf weitere solcher Texte schrieb, die mein Vater in seinem Büro kopiert hat, um sie einem Karlsruher Plattenladen zu schicken, das die Fanzines dann auslegte, und nach einer Woche waren alle ausverkauft! Später habe ich dann von den Riot Grrrls gelesen, dass die auch Fanzines machen, nur mutiger und politischer, dass sie über Dinge schreiben, über die man sich sonst nur nach drei Kaffee bei seinen Freundinnen ausgekotzt hat: Was macht man bei sexueller Belästigung? Von da an habe ich mich immer gefragt: What would Kathleen Hanna do?
Sandra: Dass man wirklich etwas verändern will, kommt immer auch davon, dass es einem selber richtig schlecht geht. Als sich unsere Eltern getrennt haben und unsere Mutter psychisch krank war, ging es uns richtig schlecht. Sie hatte mal sechs Wochen auf das Ergebnis einer Mammografie warten müssen und das Ergebnis war dann negativ, aber sie hat es nicht geglaubt, auch weil sie dachte «negativ» hieße quasi «positiv», wenigstens hat sie von dort an immer geglaubt, sie würde bald sterben. Aber sie lebt heute noch.
Kersty: Das darfst du nicht so abschätzig sagen. Stell dir mal vor, du sitzt sechs Wochen in einem Unfallauto an der Klippe und weißt nicht, ob und wann der Moment kommt, in dem das Auto kippt? Ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich darüber nachdenke, wie viele Menschen jetzt gerade in dieser Unsicherheit da draußen rumlaufen …
Sandra: Ich will noch mal was sagen, Julia, zu diesem Gefühl, dass du dich ohnmächtig fühlst. Also ich hätte dieses Café jetzt wahrscheinlich nicht, wenn ich nicht auch von Haus aus einen finanziellen Überschwang kennen würde. Unsere Mutter kaufte ständig in teuren Boutiquen ein und in unserer Verwandtschaft gab es viele Leute, die reich waren. Ich war jede Woche im Kino, meine Tante hatte ein Café, wir durften uns da alles aussuchen … Unser einziges Problem war, dass wir im Dorf waren. Wir wollten in die Großstadt! In die Disco!
Kersty: Unsere Mutter hat sich nach der Scheidung ein neues Haus gekauft, das man aber von Grund auf renovieren musste, und plötzlich war das ganze Geld weg. Manchmal konnten wir nicht mal die Stromrechnung bezahlen. Also ich kenne sowohl die eine als auch die andere Seite. Obwohl, so ganz stimmt das nicht, weil es ja immer noch unser eigenes Haus war, in dem wir kein Geld hatten. Aber an sich war ich wirklich ein fröhliches Kind, das schöne Dinge machen wollte. Nur habe ich dann eben schon früh Erfahrung mit brutalstem Sexismus machen müssen. Ich hätte nicht sofort aus der Schule raus in die «Spex» gemusst! Ich hätte auch für die Lokalzeitung geschrieben. Aber als ich da zum ersten Mal eine Plattenkritik schreiben sollte, war da ein Redakteur, der sich für den Allerwichtigsten hielt, und der meinte nun mal: Wenn die hier schreibt, dann kündige ich.
Julia: Der Arme hat sich gedacht:Wenn ich nur kann, was ein kleines Mädchen kann, wer bin ich dann?
Sandra: Das hast du doch auch bestimmt oft erlebt?
Julia: Dass man in großer Runde nur mit den Vornamen vorgestellt wird, während alle Männer auch mit Zunamen und Vita vorgestellt wurden? Dass Redakteure, von denen man wirtschaftlich abhängig ist, einem nachts unangemessene Nachrichten schreiben? Dass man anmoderiert wird mit den Worten, dass man mich eigentlich nicht einladen wollte, weil das Buch ja rosa sei, dass ein anderer Mann aber für die Qualität des Buches gebürgt hätte, sodass man mich dann doch noch eingeladen hätte? Und dass ich all das am liebsten gar nicht sagen würde, weil ich nicht will, dass irgendjemand denken könnte, es würde mich stören? Ich stehe da darüber! Also zu Hause.
Sandra: Mit 20 dachte ich, ich ändere jetzt mein Leben. Ich höre auf mit diesem «Spex»-Wahn. Kersty war da Redakteurin und ich immer die aufmüpfige Schwester, die nie wollte, dass ihre Texte redigiert werden. Ich ging nach Hamburg und schrieb für die «Junge Welt», weil ein linker Redakteur von denen mir gesagt hatte: Du kriegst jetzt einen Autorenvertrag. Und schon beim ersten Treffen im Pudels hat er mich dann gefragt, ob ich jetzt mit ihm nach Hause gehe. Ich so: Äh, noch ganz dicht oder was?!
Kersty: Da wusstest du einfach noch nicht, wie das Geschäft läuft.
Sandra: Drei, vier Monate später bekam ich einen Anruf, dass ich jetzt nicht mehr für die «Junge Welt» schreiben darf, weil ich geschrieben hatte, wie sehr es mich nervt, dass man immer nur über Rapper sagt, sie seien sexistisch, während weiße Männer wie Bob-Just-Like-A-Woman-Dylan immer fein raus sind. Dem Redakteur Jürgen Elsässer – der sich ja mittlerweile als Nazi entpuppt hat – hatte das nicht gefallen und schon bekam ich Schreibverbot. Und der Redakteur, der mich geholt hatte, war natürlich nicht mehr für mich zu sprechen. Zwei Monate später kam kein Geld mehr. Und ich will jetzt nicht sagen, dass das der Grund war, warum ich magersüchtig geworden bin, aber …
Kersty: … duhattest dann halt einfach auch kein Geld mehr, um dir was zu essen zu kaufen. Aber um auch noch mal was Positives zu erzählen. Diese Zeit bei der «Spex»bei Manfred Hermes, Clara Drechsler, Mark Terkessidis und Diedrich Diederichsen, die war wunderbar. Da hat habituell alles gepasst.Also weil die Ursprungsfrage ja war, wie es dazu kommt, dass wir machen, was wir machen, und dass wir durchhalten. Und ich glaube, es liegt einfach daran, dass wir immer zur richtigen Zeit den richtigen Ort gefunden haben.
Julia: Am richtigen Ort fühlte ich mich auch, als ihr mich mit «delulu»in den Genie-Salon eingeladen habt, und sich dort im Gespräch über den Text und seine Musikvideo-Bezüge herausstellte: Während ich gebannt vor dem Fernseher saß und MTV und VIVA sah, wart ihr hinter den Kulissen und fandet es gar nicht cool?
Sandra: Ach, ich hab damals in Köln im Sixpack aufgelegt, und dann kam eine Frau rein und hat mich gefragt: Sag mal, willst du vielleicht bei VIVA arbeiten? Und ich dachte, sag mal spinnt die? Ich schreibe für die «Spex»!
Kersty: Wir haben einfach nicht gemerkt, dass wir arrogant sind.
Sandra: Wir haben einfach den Mainstream verachtet und nicht gedacht: Ach schön, da gibt es jetzt einen neuen Sender für Deutschland! Ist doch stark vom Dieter Gorny!
Kersty: Das war auch der Erste, der mich mal für ein Podium eingeladen hat.
Sandra: Aber zwei Jahre später, am Tiefpunkt meines Lebens, als ich aus Hamburg zurück nach Köln ging, habe ich dann gesagt: na gut. Bevor ich jetzt im Callcenter arbeite, arbeite ich halt bei VIVA.
Kersty: 1997habe ich von meiner Oma geerbt und mit dem Geld habe ich dann meinen Roman«Zuckerbabys» geschrieben. Als das Geld weg war, habe ich die Nummer von MTV gewählt und die haben gesagt: Ehemalige «Spex»-Redakteurin? Ja, warte, ich stell dich gleich durch. Wir können dir einen Fulltime-Job anbieten! Und ich dann so: Nein, nein. STOPP. Nicht durchstellen. Fulltime-Job? Ich muss doch Romane schreiben. Aber eigentlich habe ich MTV schon gesehen …
Sandra: Aber eigentlich brauchtest du schon Geld …
Kersty: Aber eigentlich hatte ich schon diese Hamburger-Schule-Haltung: Man geht nicht in die Institutionen. Man lässt sich doch nicht verknasten!
Sandra: Dann müsste man schon riesige Steuerschulden haben.
Kersty: Ja, alle, die das gemacht haben, hatten Steuerschulden. Und man dachte so: Die Arme! Sie hat jetzt einen Fulltime-Job. Aber dieser Job in dem Callcenter war auf dem Gelände einer Chemiefabrik. Und da dachte ich dann: Oh Gott, wie gefährlich ist das denn? Will ich bei der Arbeit wirklich echten Gefahren ausgesetzt sein? Okay, okay, dann doch lieber bei MTV arbeiten. Und MTV so: Also wenn du für uns schreiben willst, dann guck uns einfach. Dann schickten sie mir vier Songs und die Telefonnummer einer Moderatorin. Die kannste ja mal anrufen und fragen, was die so über die Songs denkt. Ja? Bis morgen 14 Uhr müssen die Moderationen fertig sein.
Julia: Aber es gab viel, viel Geld?
Kersty: 25 Mark pro Moderation. Ich kam brutto auf 1.400 Mark am Ende des Monats.
Julia: Ach, das waren diese goldenen Jahre.
Sandra: Aber es wurde noch schlimmer, oder?
Kersty: Ja. MTV ist dann von München nach Berlin an den Puls der Zeit gezogen, hatte dabei aber nicht bedacht, dass sie vom Land Bayern immer eine Förderung bekommen hatten, die in Berlin dann wegfiel. Blöd. Aber es hieß: Kersty, du darfst unsere Vorzeigesendung TRL schreiben. Durch TRL kam dann der Deutschrap in die deutschen Kinderzimmer. Also, weil die sich halt alle selbst reingewählt haben. Und ich dachte so: Wow, wow, wow! Diese Sendung darf ich schreiben! Die hat ihre Werbung groß an jeder Tankstelle! Und dann bekam ich 25 Euro pro Sendungsskript.
Kersty: Ja, warum beschwerst du dich denn? Du machst das doch jeden Tag?
Sandra: Es herrschte da auch ein gewisser Druck. Das Internet war damals ja noch nicht so wie heute und dann gab es natürlich auch immer Acts, über die man in der Kürze der Zeit nichts fand.
Kersty: Damals sind immer alle Gespräche verstummt, wenn ich sagte, dass ich für MTV arbeite. Dabei hieß das eigentlich, dass ich auf dem Ku’damm im Internet-Café saß. Aber ich habe es auch geliebt. Und im Brecht-Salon hatten wir ja die ganzen Identitätstheroetiker*innen von Şeyda Kurt bis Max Czollek zu Gast, und die haben alle gesagt, dass sie von MTV beeinflusst waren. Niemand hat da über die «Spex» geredet.
Julia: Macht ihr eigentlich gerne Interviews?
Sandra: Also ich hab sie immer gerne gemacht, wenn ich dachte, dass ich vielleicht ein bisschen mimetisch bin mit der Person. Aber ich bin ganz ehrlich, nachdem ich mit «Parole Trixi»selber Musik machte, musste ich erst mal eine große Anti-Haltung überwinden, um wieder in diese Rolle der Fragenden hineinzugehen. Aber der Thomas Venker, damals «Intro» in Köln, der war so ein Fan von meinen Texten, da wäre ich das größte Arschloch gewesen, hätte ich es nicht gemacht. Und dann hat er mir all meine Lieblingsbands angekarrt, zuerst «REM», dann durfte ich zu den «Breeders» fliegen. Wobei ich aber schon merkte, dass ich als Musikerin Interviews anders mache als vorher. Einfach weil ich aus den Gesprächen etwas für die eigene Arbeit ziehen will. Also ich würde schon sagen, dass unsere Platten von diesen ganzen Interviews inspiriert sind.
Kersty: So sollte es ja auch sein. Also, dass man etwas fragt, was man auch wirklich fragen will, und nicht fragt, weil man eben fragen muss. Aber das ist jetzt natürlich auch sehr lichtenbergerisch gedacht.
Julia:Lichtenbergerisch?
Kersty:Das ist die Gesangsmethode, die ich anwende. Nach der Gesangspädagogin Gisela Rohmert, die hat Anfang der Achtziger ein Institut aufgemacht, in einem hessischen Dorf …
Sandra: Eigentlich hat sie das ganze Dorf gemietet.
Kersty: Es ist ein uriges Bergdorf.
Sandra: Eigentlich ist es nur eine Straße.
Kersty: Irgendwie hat man das Gefühl, diese Straße ist wie der Körper, also ein Nervensystem, an das verschiedene Räume angegliedert sind, und in denen lernt man, die Resonanzräume in sich zum Schwingen zu bringen. Für mich war das sehr wertvoll, den Körper einmal nicht als eine Fehlkonstruktion zu erleben, sondern als ganzheitlich harmonischen Klangkörper. Denn ich habe auch eine hypochondrische Störung.
Sandra: Jetzt erklär doch mal, wie das genau geht, lichtenbergerisch singen!
Kersty: Also, im Grunde stellt man einen Sog her. Das Kiefergelenk beispielsweise ist voller Resonanzräume. Und wenn man hier hinlangt, in diese kleine Kerbe (sie fasst sich an beiden Kieferseiten an einen Punkt kurz unter dem Ohr) und sichdann innerlich die Frage stellt, ob die rechte Seite eigentlich von der linken weiß, und darauf dann ein paar Töne macht (Kersty schließt die Augen und macht Uh-Laute), dann wird man kreativ. Ich habe nun immer die Fantasie, dass auf der linken Seite, hier, ein Vögelchen sitzt und da auf der rechten Seite ist das Vogelfutter. Und wenn ich dann singe, dann pickt es. Mit diesem schönen Gedanken stehe ich nun auf der Bühne. Überhaupt ist es nun eine Spur, die immer mitläuft. Wenn man derart mit sich in Resonanz lebt, lernt man sein eigenes Begehren wahr zu machen. Was andere dann herausfordert, es einem nachzutun. Also, viele reagieren jetzt aggressiv auf mich. Einfach, weil sie ihr Begehren noch verdrängen …
Julia: Der Ort, an dem wir hier sitzen, dasSommerhaus war euer Stammcafé. Nun führt ihr es. War das auch immer euer Begehr?
Kersty: Als letztes Jahr die CDU wieder an die Macht kam, wusste ich: Das war’s. Wir werden wieder arm. Und schon kamen die Kulturkürzungen. Wir geben nun keine zehn Salons pro Jahr mehr, sondern nur noch vier. Und dann stand das Sommerhaus zum Verkauf und wir wussten sofort: Wir machen das! Obwohl es sehr hart war, neben der «Doctorella»-Tour und dem Buchschreiben auch noch die Ablösesumme aufzubringen und dann in kürzester Zeit alles zu lernen. Ich meine, wir kommen zwar quasi aus einem Café, da unsere Tante eines hatte, aber …
Sandra: … in den Achtzigern gab es ja noch nicht all diese Getränke wie Matcha Latte und so. Also Musik und Café, das geht immer. Nebenbei noch ein Buch schreiben, war ein bisschen hart. Aber ja, das Café ist unsere Lösung für die Kulturkürzungen!
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